(aus: junge Welt vom 21. und 22.01.2004)

Zivil kämpfen

Wie die EZLN Widerstand organisiert: Die Zukunft Mexikos kann nur multiethnisch sein

 

von Carlos Montemayor*

 

Auf dem Höhepunkt des Volksaufstandes in Bolivien trat Mitte Oktober 2003 ein alter Anführer der Ureinwohner vor die Presse, um "unsere indigenen Brüder in Mexiko" zu grüssen. Er war ein Mallku, etwa siebzig Jahre alt. Bei den Hochlandvölkern Boliviens gelten die Mallku als "Männer der höheren Einsicht". Sie sind es, die in den Gemeinden die Ältestenräte bilden, sie organisieren die kollektiven Entscheidungen der Gemeinschaft. "Mein Name ist Crispín Marín Mamani", wurde der Mann in der mexikanischen Tageszeitung La Jornada zitiert, "ich bin Vertreter der Provinz Pacajas. Wir Angehörigen der Nation der Aymara stellen die absolute Mehrheit. In unser aller Namen sende ich Grüsse an die zapatistischen Brüder in Mexiko, die den gleichen Kampf wie wir gefochten haben."

 

Weshalb verglich der alte Mann den Kampf der zapatistischen Guerilla mit dem zivilen Widerstand der bolivianischen Aymaras? Es scheint erstaunlich, dass in seinen Augen die "Zapatistische Armee der Nationalen Befreiung" (EZLN) - immerhin eine bewaffnete Organisation - einen zivilen Kampf führt, der mit dem vergleichbar sein soll, in dessen Verlauf Mitte Oktober 2003 der Präsident der Republik Bolivien, Gonzalo Sanchez de Lozada, gestürzt wurde.

 

Der Vergleich mag dem weiter gültigen Hauptanliegen des zapatistischen Befreiungsheeres geschuldet sein: Die Rückbesinnung auf die Rechte der indigenen Völker ist nicht nur für Mexiko bedeutsam, sondern für den gesamten lateinamerikanischen Kontinent. Vielleicht verglich er die beiden Bewegungen auch, weil die EZLN Mitte der neunziger Jahre die ersten internationalen Treffen gegen die irrationale Globalisierung organisierte - sie nannte sie "intergalaktisch". Den Folgen dieser Globalisierung stellten sich die Bolivianer im Fall der Gasexporte in die USA und in andere reiche Staaten vor wenigen Monaten so mutig und geschlossen entgegen.

 

In Anbetracht dieser Aussenwirkung können wir die "Zapatistische Armee der Nationalen Befreiung" zehn Jahre nach deren Aufstand am 1. Januar 1994 zumindest als einen Teil der indigenen Bewegung begreifen, die auf den Gebieten der Bildung, Literatur, Politik und Wirtschaft im Lateinamerika der vergangenen zehn Jahre an Terrain gewonnen hat. Zugleich ist die neozapatistische Bewegung im Südosten Mexikos nur Facette einer komplexeren Entwicklung auf kontinentalem Niveau: Die neuen Widerstandsbewegungen in Bolivien, Ecuador, Guatemala, Chile und Kolumbien sind Indizien für einen tiefgreifenden Prozess der Neuorientierung des kollektiven politischen Bewusstseins.

 

In den vergangenen zehn Jahren verabschiedete der Kongress der Union (Parlament) in Mexiko richtungsweisende Gesetze zugunsten der Rechte der indigenen Bevölkerung. Mit der Hauptreform wurden 2001 die zentralen Punkte des Abkommens von San Andres (1996) zwischen der EZLN und der Bundesregierung bekräftigt. Mit der Gesetzesreform definierte der Kongress die indigenen Völker jedoch nur als "Gegenstand des öffentlichen Interesses", nicht aber als politisches Subjekt, denn politische Rechte, die sich einzig und allein in der angestrebten Autonomie manifestiert hätten, wurden ihnen weiterhin verwehrt. Noch nicht einmal die Bestimmung über ihr angestammtes Land und die dort vorhandenen Bodenschätze wurde ihnen zugestanden, obwohl dies die Konvention 169 der Internationalen Arbeitsorganisation vorschreibt, die Mexiko 1990 ratifiziert hatte.

 

Auch zehn Jahre nach dem Volksaufstand der EZLN im südmexikanischen Bundesstaat Chiapas bleibt Mexiko de facto die Durchsetzung der politischen und wirtschaftlichen Ansprüche eines seit jeher unterdrückten Teiles der Bevölkerung schuldig. Im regionalen Vergleich wird das noch deutlicher: Vor zwölf Jahren erkannte die Regierung Nikaraguas den Autonomiestatus der indigenen Völker entlang der Atlantikküste an. Die Verfassungen von Kolumbien und Brasilien sind ähnlich ausgerichtet, während Ecuador und Paraguay inzwischen die Rechte der Indigenen den Menschenrechten gleichsetzen. Im April 1999 bestätigte die kanadische Regierung den Autonomiestatus der Inuit-Ureinwohner, deren Territorium sich über 1,9 Millionen Quadratkilometer erstreckt, das damit fast so gross wie ganz Mexiko ist. Die Zugeständnisse an die Inuit, die Schaffung der Nunavut Kamavat (der nach dem Gebiet benannten Nunavut-Regierung),  hat der Souveränität Kanadas keinen Abbruch getan. Mexikos Bundesregierung sollte sich an diesem Schritt ein Beispiel nehmen.

 

Ganz im Gegenteil kann die neozapatistische Bewegung um die EZLN die "Reformen" in unserem Land heute aber als klare Absage der Exekutive, der Legislative und der Judikative an die gerechtfertigten Forderungen der indigenen Bewohner brandmarken. Es war die Absage des Staates, nicht einer bestimmten Machtgruppe oder einer besonders reaktionären Partei. Nicht die zapatistische Befreiungsarmee hat den Dialog beendet, es war der mexikanische Staat.

 

Nach diesem einseitigen Abbruch des Kontaktes 2001 hat das Schweigen der populären Guerillaorganisation national wie international für viel Irritation gesorgt. Die Reaktion ist interessant, weil sie auf kulturelle Differenzen hinweist: Für die "westliche" Gesellschaft existiert ein politisches Geschehen nicht, wenn in den Zeitungen oder in online verbreiteten Kommuniques nicht darüber berichtet wird. In den indigenen Gemeinden gestaltet sich das Verhältnis zur politischen Sphäre umgekehrt: Hier werden solche Presseberichte von vornherein mit Argwohn betrachtet, der Lüge bezichtigt, während das beobachtbare Handeln akzeptiert wird. Beide Seiten trennt ein grundsätzlich differentes Realitätsempfinden. Ich persönlich bin der Meinung, dass das zapatistische Befreiungsheer als legitimer Sprecher der indigenen Gemeinden im Südosten des Landes einen solchen oft erwarteten imaginären Dialog nicht hat führen müssen. Die Zapatisten hatten bereits gesprochen. Das Land hat nicht zugehört.

 

 Mit der kurz vor dem 10. Jahrestag des Aufstandes in Chiapas gegründeten "Gemeinschaft der guten Regierungen" in den neozapatistischen Gemeinden Chiapas' haben wir einen neuen Hinweis darauf bekommen, welche Reformen unser Land wirklich benötigt. Der überwältigende Teil der indigenen Völker organisiert sein Gemeindeleben ohnehin autonom von den Vorgaben der Zentralregierung. Und das schon seit Jahrhunderten. Die aus der Vernachlässigung der indigenen Ureinwohner durch die jeweiligen politischen Machthaber entstandene Autonomie ist weitreichender, als der Beobachter denken mag. Ein zentraler Aspekt ist die solidarische Organisation der Arbeit, die als fajina, tequio oder trabajo comunitario (Gemeinschaftsarbeit) bezeichnet wird.

 

Das System verpflichtet Angehörige der Gemeinden, mit ihrer Arbeitskraft zum Bau von Gemeinschaftsgebäuden, Brücken oder Wegen beizutragen. Während der Aussaat oder der Ernte wird diese Arbeit zwischen Familien, Zonen oder Dörfern organisiert, wobei immer auf den gleichen Austausch von Arbeit zwischen den helfenden Gruppen geachtet wird. Dieses System hat in den vergangenen Jahrhunderten maßgeblich zum Überleben der indigenen Gemeinschaften beigetragen, weil diese aus ihrer sozialen Stellung heraus kaum die Möglichkeiten hatten, fremde Arbeitskraft zu entlohnen. Auf die gleiche Weise tauschen die sozialen Gemeinschaften der indigenen Ureinwohner Nahrung, Rohstoffe und andere Güter.

 

Auch die politischen Vertreter der indigenen Gemeinschaften sind ein hervorragendes Beispiel für den Charakter der politischen Realität in den autonomen Gemeinden der Ureinwohner. Jeder politische Funktionsträger nimmt neben seinem Amt die verschiedensten sozialen oder religiösen Aufgaben wahr. Wer ein politisches Amt für sich beansprucht, der muß Gemeindeaufgaben bewerkstelligen, religiöse Feste ausrichten, Essen beschaffen, Musiker und Prozessionen organisieren. Allein das zivile und religiöse Engagement eines Gemeindemitgliedes dient in den Gemeinden als Maßstab für den sozialen Aufstieg, der mit politischen Ämtern positiv sanktioniert wird. Ein politisches Amt ist weder übertragbar, noch bringt es wirtschaftliche Privilegien mit sich. Benannt werden neue Würdenträger entweder von Gemeindeversammlungen oder von Ältestenräten, deren Funktion es ist, den Fortbestand der gemeinschaftlichen Strukturen zu sichern.

 

Tag für Tag werden in den indigenen Gemeinden auf diese Weise autonome Entscheidungen getroffen. Sie folgen einer natürlichen politischen Kultur, ohne die Mexikos Ureinwohner die vergangenen Jahrhunderte ebensowenig überlebt hätten wie deren soziale Strukturen. Die mexikanische Verfassung erkennt den multiethnischen Charakter der Nation zwar an, nicht aber die politische Systeme und Institutionen der Ureinwohner. In Mexiko existiert heute eine politische und soziale Realität, die keine verfassungsrechtliche Anerkennung findet. Wir wollen diese Realität nicht sehen. Wir weigern uns, sie zu verstehen, obgleich sie lebendiger ist als die unsere. Wo es geht, ignorieren wir sie auch über fünfhundert Jahre nach der conquista (der Eroberung Lateinamerikas durch die Spanier). Die vor wenigen Wochen im Einflußgebiet der "Zapatistischen Armee der Nationalen Befreiung" (EZLN) ausgerufene "Gemeinschaft der guten Regierungen" ist ein gutes Beispiel, daß diese politische Schattenrealität aber existiert - und daß sie von ihren Trägern verteidigt wird. Die politische Widerstandskultur der indigenen Gemeinden Mexikos ist keine entstehende, sie besteht de facto. Nun gilt es, sie de jure anzuerkennen, sie gesetzlich zu bestätigen.

 

Freistaaten oder autonome Staaten bringen den föderativen Charakter eines Landes nicht in Gefahr. Auch wenn sie eigene Gesetze haben, ihre eigenen Gerichte und ihre eigene Verwaltung, sind sie nicht automatisch separatistisch ausgerichtet. Die autonomen Gemeinden der EZLN-Basis bilden keinen Staat im Staat, auch wenn sie ihre eigenen politischen Autoritäten wählen und über ihre natürlichen Ressourcen bestimmen. Was verhindert die Anerkennung der kulturellen, wirtschaftlichen und politischen Rechte in den indigenen Regionen?

 

Die EZLN ist zwanzig Jahre nach ihrer Gründung im Jahr 1983 und zehn Jahre nach dem beachtlichen militärischen und politischen Aufbegehren am 1. Januar 1994 weitaus mehr als eine bewaffnete Guerillabewegung, denn auch die Guerillaorganisationen haben sich im Laufe der Geschichte verändert. Seit den Anfängen der modernen mexikanischen Guerilla 1965 in den Bergen Chihuahuas haben sich diese Gruppen politisch, diskursiv und organisatorisch weiterentwickelt. Die EZLN wirkt in erster Linie durch die Verwendung eines für diese Bewegungen völlig neuartigen Diskurses einzigartig, der tatsächlich aber auf die Tradition der indigenen Sprache Tojolabal zurückgeht.

 

Diese Brücke zur Widerstandsgeschichte muß man schlagen, will man heute die Perspektiven des neozapatistischen Widerstandes aufzeigen. Tatsächlich war Mexiko noch im 19. Jahrhundert von Indianerkriegen zerüttet. Der "Yaquí-Krieg" etwa begann 1825. Er endete 1908, am Vorabend der mexikanischen Revolution. Der "Krieg der Kasten" der Mayas auf der Halbinsel Yucatán dauerte von 1840 bis 1909. Angesichts dieser Zeiträume wird deutlich, daß diese ersten zehn Jahre der EZLN im internationalen Rampenlicht erst der Anfang sind, sie sind die Spitze des Eisberges. Die EZLN ist Teil eines Prozesses, der weder organisatorisch noch zeitlich begrenzt ist. Die Angehörigen der Bewegung sprechen heute vor allem mit Taten, nicht mit Worten. Wir täten gut daran, ihnen zuzuhören, wenn sie sprechen, und ihre Taten zu sehen, wenn sie handeln. Das Zapatistische Befreiungsheer ist mehr als eine Untergrundarmee oder eine Gruppe bewaffneter Frauen und Männer. Es ist ein politisches Bewußtsein, daß das politische Denken des Landes früher oder später von Grund auf erneuern wird.

 

* Carlos Montemayor ist einer der bekanntesten Schriftsteller Mexikos. Er gab umfassende Sammlungen indigener Literatur heraus. Sein Prosawerk wurde mit zahlreichen nationalen und internationalen Preisen geehrt. Für unsere Zeitung verfasste er einen Essay zur Einschätzung des Aufstandes der Zapatisten, der am 1. Januar 1994 in Chiapas begann.

 

(Aus dem Spanischen von Harald Neuber)

 

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